Tinka Beller ist Mentorin, Sterbebegleiterin und Autorin. Der Wünschewagen Schleswig-Holstein ist sehr froh, sie im Team zu haben, denn sie versteht es, ihre persönlichen Eindrücke, die sie als ehrenamtliche Wunscherfüllerin sammelt, anderen so nahe zu bringen, als sei man selbst dabei gewesen. Hier ist ihr Bericht über die jüngste Wunschfahrt, die am 1. Februar ins Fußballstadion nach Braunschweig führte.
„Wenn Engel reisen, lacht der Himmel!“ heißt es, wenn das Wetter bei Unternehmungen oder Ausflügen besonders schön ist. So ein Tag war der Tag, an dem der ASB-Wünschewagen Andi begleiten wollte, definitiv nicht. Und es gibt Tage, wo einfach alles wunderbar und unkompliziert läuft. So ein Tag war das auch nicht.
Ein Tag, der damit beginnt, dass um 3 Uhr (morgens!) der Wecker klingelt, scheint erstmal nicht so wahnsinnig schön. Aber wenn man um 6 Uhr am Treffpunkt sein möchte, um die neue Wünschewagen-Kollegin zu treffen, ist alles gut. Also fast gut, weil die Kollegin nicht am Treffpunkt, sondern auf der Autobahn war. Mit einem Motorschaden. Fing irgendwie nicht so richtig gut an, dieser Tag.
Viel später als geplant sind wir losgefahren. Wir wären gerne „losgerast“, funktioniert aber leider nicht, weil der Wünschewagen auf 100 km/h gedrosselt ist. Auf Fahrten, die manchmal sehr, sehr weit sind, eine große Herausforderung. Und an diesem Tag ein weiteres Mal das Gefühl: „Oh man, jetzt könnte es aber auch mal besser werden!“ Und der Himmel hatte auch noch nicht gemerkt, dass da Engel unterwegs waren: Es regnete die ganze Zeit.
Und dann, in Bernstorff, ging die Sonne auf.
Weil Andi, der schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf uns gewartet hat, uns angestrahlt hat. Als ob er nur auf uns, Belinda und mich, gewartet hätte. Das war das erste von vielen Malen an diesem Tag, an dem ich das Gefühl hatte, der richtige Mensch am richtigen Ort zu sein.
Wenn ich über Wünschefahrten schreibe, kann ich immer nur meine ganz persönlichen Eindrücke wiedergeben. Das, was mir naheging. Mich zum Lächeln gebracht hat oder in Kopf und Herzen bleibt. Ganz viele Emotionen. Weil ich mich an Momente und Menschen erinnere, die mich sehr bewegt haben. Ich habe oft das Gefühl, diese Erlebnisse gar nicht richtig beschreiben zu können. Ich versuche es trotzdem und hoffe, dass ein bisschen dieser Besonderheiten in den Zeilen zu erkennen ist.
Andi saß fix und fertig angezogen im Rollstuhl, Zigarette in der Hand, Eintracht-Braunschweig-Schal umgebunden. Große Tüte mit Keksen & Co auf dem Tisch. Das Vertrauen in unsere Verpflegung hielt sich scheinbar in Grenzen. Und wenn wir uns nicht im Hospiz getroffen hätten, hätte man denken können, dass es ein Ausflug von Freundinnen ist, die mit einem Kumpel etwas unternehmen wollen. Dass wir uns fünf Minuten vorher noch gar nicht kannten, war in dem Moment total vergessen. Andi hat uns mit seiner Freude und seiner Lässigkeit total angesteckt, alles, was an diesem Tag bis dahin nicht so richtig gut funktionierte, war ab da total egal. So, als ob das mit dem Schutzengel ab diesem Moment lief.
Dann: Alle ab ins Auto! Hört sich einfacher an, als es ist.
Jemandem vom Rollstuhl auf die Trage zu bewegen, ist eine Herausforderung. Besonders, wenn derjenige größer und schwerer ist, als man selbst. Ja, es gibt Techniken dafür. Aber besonders, wenn es sich dabei um eine „fremde Person“ handelt, der man körperlich sehr nahekommt, ist es ungewohnt. Aber das war uns ins diesem Moment schon gar nicht mehr bewusst, Andi war so locker, dass er es uns sehr leicht gemacht hat.
Das ist ein Aspekt, der häufig bei den Fahrten übersehen wird: In den Berichten schreiben wir, die Begleitpersonen, was wir erlebt haben. Uns wird viel Anerkennung entgegengebracht, dass wir unsere Freizeit (erwähnte ich schon, wann der Wecker klingelte…?) damit verbringen, andere Menschen bei der Erfüllung eines Wunschs zu begleiten. Das ist sehr schön und ich freue mich über jedes nette Wort, das ich deswegen höre.
Aber: Zu jedem „Geben“ gehört auch „Nehmen“ – und das ist manchmal gar nicht so einfach. Andi war ein absolutes Vorbild, etwas mit Freude anzunehmen. Und uns an dieser Freude teilhaben zu lassen.
Nachdem wir alles und jeden im Wagen hatten, haben wir Nancy abgeholt. Die wunderbare Nancy, die, wie alle anderen Freunde und Familie so unglaublich warmherzig und freundlich war, dass wir spätestens da das Gefühl hatten, dazuzugehören.
Ich brauchte Kaffee – Andi Cheeseburger und Schokomilchshake. Kurzer Zwischenstopp im McDrive – und endlich, „mit Vollgas“, Richtung Stadion.
Andi, Nancy und Belinda hatten eine gute Zeit, es gab Getränke, Schoki und Musik, hat sich ein bisschen angefühlt, wie Klassenfahrt oder ein Schulausflug. Belinda hat die verschiedenen Möglichkeiten zur Beleuchtung ausprobiert und im Rückspiegel sah es fast aus wie in einem coolen Club. Vermutlich lag es nicht an meinen Fahrkünsten, aber wir sind pünktlich im Stadion angekommen. Und alles, was so eckig anfing, fügte sich ganz wunderbar.
Christian, Freund und Organisator, stand mit einem Teil der Familie schon am Tor und hat uns erwartet. Der Parkplatz, auf den wir fahren sollten, hieß „Wahre Liebe“, und treffender kann man das, was wir in den nächsten Stunden miterleben durften, kaum beschreiben. Wir hatten phantastische Plätze, und auch, wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal wusste, dass der Verein existiert, war total klar, dass Braunschweig (an dieser Stelle meinen herzlichen Dank an Christian, der mich darauf hingewiesen hat, dass wir nicht in Osnabrück waren, wie ich ursprünglich geschrieben hatte…) die bessere Mannschaft ist. Deutlich besser. Hat sich leider nicht im Ergebnis gezeigt, aber wir waren uns alle einig, dass das am Schiri lag. Fußball verbindet.
Besonders schön ist so ein Spiel natürlich, wenn man danach noch ein bisschen fachsimpeln kann.
Dank der herzlichen und großzügigen Unterstützung der Eintracht Braunschweig Stiftung hatten wir die Möglichkeit, danach im VIP-Bereich des Stadions zu feiern. Andi, mit dem – von allen Spielern unterschrieben! – Trikot, und alle, die ihn begleitet haben. Gefühle sind schon im Normalfall sehr schwer zu beschreiben, aber hier fällt es mir besonders schwer. Wann immer ich Andi angesehen habe, stand jemand bei, neben oder hinter ihm. Eine Hand, die ihn an der Schulter berührte, ein Arm, der locker um ihn gelegt wurde. Und immer Blicke voller Wärme, Freundschaft und Zuneigung für diesen wunderbaren Menschen. Die Familie, die an diesem Tag so beeindruckend stark war, die Freunde, die sich abgewechselt haben, Andi Wünsche zu erfüllen (viele davon handelten von Essen…) und Andi, der uns alle mit seiner Freude angesteckt hat. Ich habe selten jemanden erlebt, der mit wenig Worten so viel an- und berühren kann.
Es gibt unzählige Fotos von diesem Tag. Und es ist gut, dass es sie gibt. Weil auf allen zu sehen ist, wie besonders diese Stunden waren, wie viel Freude und Liebe bei aller Trauer um das Wissen um Andis gesundheitlichen Zustand möglich ist. Weil es denen, die dabei waren, immer zeigen wird, dass sie etwas ganz Wundervolles geschafft haben, viel mehr, als das Organisieren dieser Fahrt. Ich bin seit vielen Jahren Sterbebegleiterin. Und weiß, dass es immer ein bisschen Distanz braucht, um Menschen begleiten zu können. Auch und besonders bei Wunschfahrten. Und trotzdem gab es diese Momente, die mich sehr berührt haben. Als Nancy von einem Gespräch mit Andi berichtete. Jetzt, mit der Krankheit, wüsste er, wer seine wirklichen Freunde seien. Und Nancy, die mit Tränen in den Augen sagte: „Also, das hättest Du einfacher haben können. Du hättest doch einfach fragen können…“. Der Moment, als im Stadion die letzte Runde bestellt werden musste und allen bewusst wurde, dass der Abend enden würde. Als „Gute Nacht, Freunde“ gespielt wurde, als wir gegangen sind. Als niemand wirklich gehen mochte, wir zusammenstanden, weitere Fotos gemacht haben, vor dem Banner „You´ll never walk alone!“, weil allen bewusst war, dass wir mit Andi zurück ins Hospiz fahren würden und es der letzte Ausflug dieser Art sein würde. Michael, Achim und Bärbel – Euch als Familie zu sehen, hat uns sehr beeindruckt. Martin, Christian und Nancy – ihr seid die Freunde, die man sich in so einer Situation wünscht. Und ihr habt diesen Tag zu etwas ganz Besonderem gemacht.
Als wir Andi zurück vom Rollstuhl auf die Trage gehoben haben, fühlte es sich schon so normal an, als ob wir das schon sehr oft getan hätten. Andi, Nancy und Belinda wieder im Wagen verteilt und los. Und es sind diese Momente, die ich nicht beschreiben kann. Nach dieser empfundenen Nähe, der oft geäußerten Dankbarkeit der Familie und Freunde, die gedrückten Hände und die festen Umarmungen. Nach diesen Stunden in den Wagen zu steigen und loszufahren war der Moment, der mir persönlich sehr schwer fiel.
Die Stimmung auf der Rückfahrt war ruhig. Wir waren alle mit unseren Eindrücken beschäftigt, so verschieden sie gewesen sein mögen. Kurze Tank- und Rauchpause, noch mal einen Kaffee, und dann waren wir wirklich irgendwann wieder in Bernstorff. Es war Nancys Wunsch, Andi mit uns zusammen zurück zu bringen. Und auch wenn wir vermutlich mit unserer Fahrerei die CO2-Bilanz eines kleinen Staates übertroffen haben, war es total klar, dass wir das so machen würden. Andi hatte an dem Tag mit Sicherheit die meisten Frauen um sich, von zweien wurde er abgeholt, von dreien zurückgebracht. Auch die Nachtschicht im Hospiz hat ein bisschen gelächelt, als wir kamen. Es war spät, wir waren alle total kaputt, müde und aufgewühlt. Alle außer Andi – er hätte gerne noch ne Runde Party gemacht... Letzte Umarmungen und zurück in den Wünschewagen, Nancy nach Hause bringen. Ab und zu ein fassungsloser Blick auf die Uhr, es war klar, dass wir 24 Stunden unterwegs sein würden, bevor Belinda und ich wieder Zuhause wären. Gut, dass es im Hospiz neben viel Verständnis auch Kaffee gab. Verabschiedung Nancy, Rückfahrt nach Elmshorn, den Wagen zurückbringen. In die eigenen Autos steigen und nach Hause fahren. Mit dieser Mischung aus unglaublicher Müdigkeit, Emotionen und Dankbarkeit, Teil dieses Tages gewesen sein zu dürfen.
Am nächsten Tag eine Nachricht der Eltern an alle, die beteiligt waren. So berührend, dass ich nicht mehr dazu sagen möchte.
Reinhard Mey singt in dem Lied: „Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehen…“. Ich werde bei diesem Lied jetzt immer an Andi und alle, die dabei waren, denken. Daran, dass es manchmal auch eine Zigarette im Liegen sein kann.
Und, dass manchmal gar nichts gesagt werden muss, weil es einfach keine Worte gibt.