Was wirklich zählt.

Wenn Menschen gefragt werden, was im Leben wirklich wichtig ist, das, was zählt, dann kommen spontan meistens die gleichen Antworten: Gesundheit. Freunde und Familie, Personen, die einem wichtig sind. Gute Erlebnisse wie Urlaube etc., an die man sich erinnern kann. Materielle Dinge wie ein großes Auto, teure Technik u.ä. werden meistens sehr spät genannt.

Den Wunsch nach Gesundheit hat Gabi nicht. Nicht mehr. Nicht nach der Diagnose einer so seltenen Erkrankung, dass statistisch ca. eine Person in einer Stadt wie Hamburg daran erkrankt. Nicht nach den verschiedenen Operationen und Behandlungen, von denen sie mir erzählt, als wir sie und ihre Tochter Jasmin im Hospiz abholen. Mein wunderbarer Kollege Hans-Rudolf fährt, Lara, die heute als Praktikantin das erste Mal dabei ist, sitzt neben ihm.

Es gibt Fahrten, bei denen läuft von Anfang an alles wunderbar unkompliziert. Der Wunsch ist klar, die Terminfindung läuft, das Wetter spielt mit und alle Beteiligten haben eine tolle Wunschfahrt. So eine Fahrt ist es heute nicht.

Denn eigentlich wollte Gabi die Welt von oben sehen, geplant war ein Rundflug über Hamburg. Hamburg hat sehr viel Schönes, aber nicht unbedingt eine Garantie für gutes Wetter, weswegen die Fahrt mehrmals verschoben werden musste. Heute haben wir strahlenden Sonnenschein – und sind auf dem Weg. Nach Büsum. Wünsche können sich ändern, Gabi möchte an die Nordsee, Wind und Wellen spüren und wir dürfen sie dabei begleiten.

Wir haben Zeit, uns ein bisschen kennenzulernen, darüber zu sprechen, was jetzt wichtig ist. Mit dem Wissen, dass die Lebenszeit eher Tage und Wochen als Monate beträgt, spricht Gabi sehr ruhig, über das was ist und das, was war. Über ihre vier Kinder und die Herausforderungen, die das Leben für sie vorgesehen hatte. Beziehungen, die nicht funktionierten, Sorgen und die kleinen und großen Dramen, die es gibt als alleinerziehende Mutter. Das alles hat sie für sich geklärt, es gibt nichts, womit sie hadert, was sie bereut in ihrem Leben; das erwähnt sie mehrmals an diesem Tag.

Der Umzug ins Hospiz hat ihr gut getan. Die Wertschätzung, die ihr dort entgegengebracht wird, und besonders das Personal helfen ihr, die Tage so zu gestalten, wie sie es möchte. Sie schwärmt von einem Pfleger wie andere von Robbie Williams, es muss ein toller Typ sein, der Gabi so begeistern kann. „Ich lerne loszulassen, jeden Tag mehr. Ich habe keine Angst, vor dem Sterben, weil ich mir sicher bin, dass es danach weitergeht. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Vision, das Gefühl, dass ich auf einer ganz großen Luftmatratze auf der Ostsee schwimmen würde. Die Wellen haben mich getragen, es war ein wundervolles Gefühl. So, als ob ich in Richtung Ewigkeit gleiten würde. Ich konnte noch nicht sehen, was danach kommt, so weit war es noch nicht, aber es hat sich sehr friedlich angefühlt.“

Puh. Nee, so weit war es noch nicht. Jetzt ist noch nicht die Zeit zu gehen, jetzt wartet ein Großteil der Familie in Büsum auf uns.

Es sind viele Menschen, die mit Gabi diese letzte Fahrt unternehmen möchten, große und kleine. Nach kurzer Zeit gebe ich es auf, die Familienverhältnisse verstehen zu wollen, total egal, alle sind herzlich und freuen sich. Die Familie hat viel für sie unternommen und organisiert, jetzt werden die Kräfte weniger, das Sauerstoffgerät ist ein ständiger Begleiter. Dies wird ihr letzter, großer Ausflug, hat sie auf der Fahrt gesagt. Mit diesem Bewusstsein nimmt sie jeden Moment intensiv wahr.

Die Crew der „Ol Büsum“ ist wunderbar und unterstützt uns sehr, wir dürfen als Erste und in aller Ruhe einsteigen. Gabi möchte direkt an der Reling sitzen, wo ihr der Wind um die Nase pustet. Ich glaube, die Seehundbänke und die Tiere, die wir dort sehen, sind für sie fast nebensächlich, ihr Blick geht in die Ferne. Die kleineren Kinder sitzen ihr gegenüber, eingekuschelt in die Wünschewagen-Decke, die wir mitgebracht haben. Es gibt feste Umarmungen und Tränen, nicht bei Gabi, die total bei sich ist, sondern ihren Angehörigen, die fühlen, dass diese gemeinsame Zeit bald enden wird.

Wir geben der Familie ein bisschen Zeit für sich, Lara bleibt in der Nähe, Hans-Rudolf und ich püttschern durch das Schiff, trinken Kaffee und schnacken mit Gästen, die uns auf den Wünschewagen ansprechen. Ich hatte an Deck Rosenblätter gesehen, bin aber doch überrascht, als ich das Schild „Standesamt Büsum“ entdecke. Hans-Rudolf guckt ein bisschen skeptisch, als ich davor ein gemeinsames Foto machen möchte, lässt sich aber überreden. Wir machen viele Fotos an diesem Tag, als Erinnerung für die Familie. Von Gabi, mit vom Wind zerzausten Haaren, den Kindern, die Eis und Milchbrötchen in ihren Händen halten und ihren Töchtern, die immer wieder ihre Nähe suchen.

Es ist schwer, ein Ende zu finden nach dieser Fahrt. Eine Verabschiedung, die für alle gut ist. Gabi macht es allen auch hier wieder leicht, nach einem letzten Gruppenfoto möchte sie noch ein Fischbrötchen – und da müssen ja nicht mehr alle mitkommen. Eine letzte Umarmung, klebrige Küsschen von den Kindern, ein letztes Winken auf dem Weg zu den Autos, Tschüss. Sie schafft es, sich und ihre Wünsche zu artikulieren, ohne jemanden zu brüskieren.

Hans-Rudolf holt den Wünschewagen, ich schiebe den Rollstuhl und gehe mit Gabi und Jasmin zum Fisch-Stand. Gabi weiß, was sie will, so, wie wir sie den ganzen Tag erlebt haben, sucht sie sich mit Bestimmtheit ihr Brötchen aus. Sie möchte es mitnehmen, später, im Hospiz alleine und in Ruhe essen. Wir sprechen über den Tag, über das, was sie für ihre Kinder und Enkelkinder vorbereitet hat, für die Zeit, wenn sie nicht mehr lebt. „Ich habe meiner jüngsten Tochter ein Nest gebaut. Sie hat noch nie alleine gelebt, da braucht sie noch ein bisschen Hilfe!“ Ich bin mir sicher, dass sie die bekommen wird. Von Jasmin und allen anderen, die heute dabei waren. Und einer Mama, die immer bei ihr ist. Nur nicht mehr hier.

P.S.: Gabi hat mir erzählt, worauf sie sich freut. Darauf, Mirko Nontschew, den vor Kurzem verstorbenen Komiker, im Himmel live zu erleben. Mit ihrem Freund Fritz Rock´n Roll zu tanzen. Und darauf, viele Menschen zu treffen, die diesen Weg vor ihr gegangen sind. Ich habe sie gebeten, dass sie Elvis von mir grüßt. Und ihm sagt, dass ich ein großer Fan bin. Wenn es jemand schafft, dann Gabi. Da bin ich mir ganz sicher.

Tinka Beller,

Autorin und Wunscherfüllerin