„Gleich ist er im Gehirn!“ Das war mein erster Gedanke, als Marcel das Stäbchen in meiner Nase bewegt und mir die Augen tränen. Reflexartig, nicht, weil es so traurig war. Er macht das gut, sehr ruhig, erklärt jede seiner Bewegungen. Schade nur, dass diese Bewegung durch meine Nase – und gefühlt direkt ins Gehirn gehen. Corona macht vieles anders, sehr vieles nicht möglich und einiges einfach anders. Das betrifft natürlich auch den Wünschewagen.
Damit wir Fahrten begleiten dürfen, ist ein Schnelltest für alle Beteiligten also nur eine kleine Hürde, auch wenn Johanna das in dem Moment vermutlich anders gesehen hat. Johanna macht ihr freiwilliges soziales Jahr (FSJ) beim ASB und unterstützt eigentlich Birgit, die Koordinatorin, beim Planen der Fahrten. Heute ist sie meine Begleitung.
Corona heißt auch, dass es sehr schwierig ist, qualifizierte Begleitpersonen zu finden. Die meisten Ehrenamtlichen kommen aus der Pflege oder dem Rettungsdienst – und sind im Moment am Limit. Damit wir unseren heutigen Fahrgast begleiten können, hat Birgit viele Stunden am Telefon verbracht, bis sie jemanden gefunden hat. Björn ist Rettungssanitäter, wir kennen uns nicht und treffen uns direkt im Hospiz in Flensburg, wo unsere Fahrt beginnt.
Johanna fährt, ich lese mir die Informationen durch, die wir zu der heutigen Fahrt bekommen haben.
Carlotta (die in diesem Text gerne so heißen möchte) ist seit dem 24.12.20 im Hospiz. Ich erinnere mich an meinen Heiligabend, den ich mit wunderbaren Menschen in einer vertrauten Umgebung verbringen durfte, während Torge (der eigentlich auch anders heißt), seine Frau aus dem Krankenhaus in ihr letztes, gemeinsames Zuhause gebracht hat. Ich atme tief durch und lese weiter. Carlotta hatte erst vor einigen Tagen Geburtstag, Jahrgang 1980. Ein weiterer, tiefer Atemzug. Realistisch betrachtet, war es ihr letzter Geburtstag. Manchmal ist die Realität einfach nur unbegreiflich.
Nach einer kleinen Stadtrundfahrt durch Flensburg (ich habe den Orientierungssinn eines Goldfisches, Johanna ist damit beschäftigt, den großen Wagen durch kleine Straßen zu lenken) und mehreren Anrufen bei Björn („Ihr seid jetzt schon zwei Mal an mir vorbei gefahren …“) finden wir das Hospiz. Auch hier gelten besondere Regeln. Vollschutz, das heißt große, weiße Overalls, FFP2-Masken, Schutzbrille – das ganze Programm. So ausgestattet klingeln wir, um Carlotta und Torge abzuholen. Wir gehen davon aus, dass wir sie im Rollstuhl transportieren können, in den Unterlagen steht, dass sie mit Hilfe ein paar Schritte gehen kann. Die Ärztin, die uns sehr freundlich begrüßt, macht deutlich, dass das nicht geht. Während Björn die Trage aus dem Wünschewagen holt, spreche ich kurz mit ihr, was den Gesundheitszustand von Carlotta angeht. Sie ist sehr schwach, wir müssen gucken, wie es ihr während der Fahrt geht, was von ihren Wünschen wir realisieren können. Die Tatsache, dass diese Fahrt an einem Wochentag stattfindet, hat die Suche nach Begleitungen noch schwieriger gemacht, die Aussage der Ärztin macht klar, dass es richtig war, nicht bis zum Wochenende zu warten. „Lebe jeden Tag, als ob es dein letzter wäre …“ – so oft gehört, und trotzdem immer wieder berührend, wenn deutlich wird, dass wirklich nicht mehr viel Zeit bleibt.
Es fasziniert mich auch nach vielen Jahren Erfahrung in der Sterbebegleitung immer wieder, wie viel Kraft und Freude Menschen in dieser Lebensphase ausstrahlen können. Björn und Johanna sitzen vorne, ich begleite Carlotta und Torge im hinteren Teil des Wagens. „Vielleicht muss Torge vorne sitzen, ihm wird manchmal übel während der Fahrt!“ Sie, die liegend transportiert werden muss, die Schmerzpumpe, über die sie regelmäßig starke Medikamente bekommt, unter der kuscheligen Decke verborgen, macht sich Gedanken, ob ihrem Mann eventuell übel werden könnte. Torge und ich müssen lächeln, Liebe und Fürsorge von Carlotta sind spürbar. Wir sprechen über ihren Wunsch. Der Ort, an den wir fahren, ist für beide etwas ganz Besonderes. Dort haben sie Urlaub gemacht – und vor einigen Monaten noch einmal ihr Eheversprechen erneuert. Carlotta zeigt mir Fotos. So schmal und blass sie jetzt vor mir liegt, ist die Frau von den Fotos gut erkennbar. Ich sehe sie als Braut in ihrem außergewöhnlichem, schwarzen Kleid, und die verschiedenen Haarfarben, die sie früher getragen hat: pink, knallrot oder hellblau. Jetzt sind ihre Haare braun, ganz kurz und unter einer warmen Mütze verborgen, sie ist ungeschminkt und blass, aber die Piercings sind noch in der Lippe. Carlotta erzählt von sich, ihrem Leben, ihrer Ehe und ihrer Krankheit. Wenn sie erschöpft ist, spricht Torge. Von der Diagnose, die gar nicht so schlimm schien, der Behandlung und der dann überraschenden Aussage: „Wir können nichts mehr für sie tun!“. Carlotta ist pure Energie, trotz ihrer körperlichen Schwäche. Sie hat in den letzten Tagen ihre Urne gestaltet, natürlich in schwarz, ihrer Lieblingsfarbe. Wir sprechen über ihre Beisetzung, viele ihrer Gedanken drehen sich um Torge, wie es ihm gehen wird, wenn sie nicht mehr bei ihm ist.
Sie sind ein außergewöhnliches Paar, stark tätowiert, ungewöhnlich im Kleidungsstil. Um so überraschter bin ich, als sie von einer Versicherung erzählen, die sie vor der Diagnose abgeschlossen haben. Damit die Kosten für die Beisetzung übernommen werden und zu der Trauer nicht noch finanzielle Sorgen kommen. Ich habe mit Ende 30 nicht an so etwas gedacht, vielleicht hatte sie damals schon eine Ahnung, dass sie nicht alt wird. Es würde mich nicht wundern, wenn sie eine besondere Wahrnehmung dafür hat. Torge hält ihre Hand, es gibt keine offenen Fragen, zwischen den beiden ist alles besprochen. Carlottas „Löffel-Liste“ so weit wie möglich realisiert, einiges auch mit Hilfe von Marijkje Klawitter, die wir gleich auf dem Hof treffen werden. Heute nun also der letzte Wunsch, noch einmal ins „Waldschlösschen“ auf dem Ferienhof Lehbekwiese, wo sie glückliche Tage miteinander verbracht haben.
Das Empfangskomitee am Hof ist großartig, der Eingang zum Stall, in den Carlotta möchte, ist mit schwarzen Ballons dekoriert. Auf der Trage wird sie in den Stall gefahren, fast auf Augenhöhe mit ihrem Lieblingspferd Greta, die sie im Liegen füttert und streichelt. Sie blüht auf, als sie vom Urlaub hier erzählt, den Ausritten an den Strand und der wunderbaren Atmosphäre. Wir bekommen eine Idee von der Gastfreundschaft, als wir in das kleine Ferienhaus kommen, in dem sie gewohnt haben. Auch hier ist alles liebevoll vorbereitet, es gibt Brötchen, Kaffee und Kuchen und ganz viel Zuneigung. Carlotta kann nicht essen, aber den Geschmack von Himbeeren oder einem Stückchen Apfel wahrnehmen. Während sie den Moment mit allen Sinnen genießt, fließen einige Tränen bei Betti und Daggi, die sie aus den Ferien kennen.
Carlotta und Torge haben ein kleines Schloss mitgebracht, das am Giebel des kleinen Häuschens angebracht werden soll. Es ist alles gut vorbereitet, Hammer und Leiter stehen parat und unter großem Beifall befestigt Torge das Schloss gut sichtbar am Dach. Eine bleibende Erinnerung.
Das Wetter meint es gut mit uns, es ist kalt aber sonnig und wir können direkt an den Strand fahren, an dem sie ihr Eheversprechen erneuert haben. Carlotta hat Torge ermutigt, sich eine neue Partnerin zu suchen, „wenn sie nicht mehr ist“ und Vorschläge gemacht, wen sie sich vorstellen könnte. In diesem Moment ist das absolut unvorstellbar, so nahe und verbunden sie miteinander umgehen, dass wir, als Begleitung, uns sehr zurücknehmen, um diese besonderen Momente nicht zu stören. Nicht immer einfach.
Auch nicht einfach, die Trage direkt in den Sand zu bringen. Mit Björns professioneller Unterstützung schaffen wir es, Carlotta das Strandgefühl, das sie sich gewünscht hat, zu ermöglichen. Die Stadt, in der ich wohne, ist nur einige Kilometer entfernt, trotzdem kenne ich diese Gegend nicht und bin beeindruckt, wie schön es ist.
Einige der Ballons haben wir mitgenommen und Nachrichten daran befestigt. Carlotta hat auch einen Wunsch notiert, und als die Ballons in den strahlend blauen Himmel steigen, sieht es aus, als ob ihrer und Torges Ballon miteinander fliegen, ein wunderschönes Bild, das uns alle sehr berührt. Wir anderen sammeln Muscheln, werfen Steine ins Wasser und versuchen den Gedanken zu verdrängen, dass es kalt wird und wir Carlotta, die mittlerweile warm eingekuschelt direkt auf dem Sand sitzt, auch wieder zurückbringen müssen. Ich höre sie leise weinen, während sie sich an Torges Schultern lehnt und fühle mich hilflos.
Gemeinsam mit gefühlt dem halben Strand bringen wir die Trage wieder in den Wünschewagen. Carlotta ist erschöpft, schließt häufig die Augen und kann kaum noch sprechen. Torge sorgt für sie, ist bei ihr, hält ihre Hand, während wir alles, was Marijkje und ihre Freundinnen für sie und uns mitgeben möchten, einpacken. Es ist gut, dass Carlotta nicht mehr aussteigt, das macht den Abschied für alle ein bisschen einfacher. Wir verlassen wunderbare, weinende Menschen, als wir zurück nach Flensburg fahren. Ich muss lächeln, als ich in den Wagen steige. Einige, der schwarzen Ballons haben wir mitgenommen, neben dem Türgriff klemmt ein bunter Strauß Tulpen, den Carlotta geschenkt bekommen hat, der Boden ist voller Sand. So, wie es an diesem Tag Lachen und Weinen gab, Momente, die uns vor Rührung kurz den Atem genommen haben, sieht es auch aus. „Ich habe zwei Gefühle in mir. Das Eine ist ganz, ganz große Dankbarkeit und Glück, weil dieser Tag so schön war!“ Carlotta spricht leise, Torge und ich gucken uns an, sicher, dass jetzt so etwas wie Traurigkeit kommt, sterben zu müssen. „Und das Zweite: Ich bin sooo müde, ich möchte in mein Bett!“.
Wir bringen die beiden, mit denen wir einen so schönen und besonderen Tag verbringen durften, zurück. Ich setze mich neben sie, halte ihre Hand und bedanke mich, dass ich sie kennenlernen und bei ihr sein durfte. 41 Jahre ist definitiv kein Alter, in dem jemand sterben sollte. Aber manche Menschen haben in diesen Jahren vermutlich mehr erlebt, als andere es nicht in 100 Jahren würden. Ein Moment der Intimität und Stille, bevor das Abschiedsgewusel losgeht und wir uns endgültig verabschieden.
Björn bleibt in Flensburg, Johanna und ich fahren den Wünschewagen zurück nach Elmshorn. Ich habe im Laufe des Tages immer mal geguckt, wie es ihr geht, aber fast vergessen, wie jung sie ist und dass es ihre erste Fahrt war. Es wird sie verändern, das ist fast sicher. Vielleicht noch ein bisschen achtsamer machen, für das, was wichtig ist.
Als wir vom Strand weggefahren sind, hat Torge Carlotta ganz sanft berührt, sie angelächelt und „Du bist eine Schöne-Momente-Sammlerin“ gesagt.
Ich hatte die Augen halb geschlossen, um sie nicht zu stören, die Worte waren nicht für mich, aber sie waren so schön, dass ich sie nicht vergessen werde. So, wie Torge und Carlotta.
Tinka Beller
Wunscherfüllerin beim Wünschewagen Schleswig-Holstein