Mein erster Eindruck: Ganz schön wuselig hier. Im Eingangsbereich stehen zwei Frauen und füllen Formulare aus, eine weitere am Tisch, Birgit, die Koordinatorin, kommt und drückt mir ebenfalls Zettel in die Hand, jemand rauscht im Vollschutz, das heißt Kittel, FFP2-Maske und Visier an mir vorbei. Bei genauerem Hinsehen stellt sich raus, dass es Marcel ist, der die obligatorischen Corona-Tests durchführt.
Er sieht aus, als ob er nebenbei eine OP am offenen Herzen durchführen könnte, während er mich mit einem strahlenden Lächeln begrüßt (jedenfalls glaube ich das, genau zu erkennen ist es nicht.). Sein „Hallo Tinka, schön, dich zu sehen! Wie immer?“ hätte auch deutlich besser in eine coole Bar gepasst, als in diese Situation. Er wollte einfach wissen, auf welcher Seite der Nase er heute das Teststäbchen Richtung Gehirn führen sollte.
Bei näherem Hinsehen waren es gar nicht so viele Personen, und anhand der Kleidung auch gut zu unterscheiden: Alles, was Jacke oder Sweatshirt mit „Wünschewagen“ trägt, gehört zum ASB oder zur heutigen Fahrt. Vera und Ann-Sophie waren schnell identifiziert. Kurzes Kennenlernen zwischen dem Ausfüllen der Papiere, wir sind noch nicht miteinander gefahren. Wiebke, die Ehefrau unseres heutigen Fahrgasts (die, ebenso wie ihr Mann und die Freunde, anders heißt), saß mit uns am Tisch, während wir auf die Testergebnisse warteten. Ungewöhnlich, dass wir die Begleitperson vor unserem Fahrgast kennenlernen, aber Wiebke konnte in dem Krankenhaus, in dem sich Stephan, ihr Mann befindet, nicht getestet werden. Während wir auf die Ergebnisse warten, kommen wir miteinander ins Gespräch. Für uns, die Begleitenden, ist jede Fahrt besonders und wir bemühen uns, uns auf unsere Fahrgäste und ihre Angehörigen einzustellen. Für die Menschen, die wir begleiten, ist es ein unwiederbringliches Erlebnis, häufig das letzte gemeinsame, außerhalb der Krankenhaus- oder Hospizroutine. Mit diesem Wissen ist es besonders wichtig, auf Nähe und Distanz zu achten, um den Fahrgästen genug ungestörten Raum füreinander zu lassen.
Wiebke spricht sehr offen über Stephan und seine Erkrankung. Sie erzählt von seinem Wunsch. „Besuch beim besten Freund“ steht auf der Information, die wir im Vorfeld der Fahrt bekommen haben. Seit ich das gelesen habe, hat es mich persönlich bewegt.. Ich habe einen wunderbaren Freundeskreis, Menschen, die mir viel bedeuten, mit denen ich in den meisten Fällen seit vielen Jahren befreundet bin - aber ich wüsste nicht, wen ich in diesem Fall sehen wollen würde. Mit dem Wissen, dass es vermutlich das letzte Treffen sein wird.
Für Stephan ist das klar. Christian ist sein bester Freund, sein Trauzeuge, jemand, der in wichtigen Situationen bei ihm war. Wie damals, als er im Urlaub einen ganz unspektakulären Unfall hatte, der aufgrund unglücklicher Umstände dramatisch und mit einer andauernden Beeinträchtigung endete, Wiebke spricht mit viel Wärme und der Wunsch, etwas Besonderes für ihren Mann zu ermöglichen, wird deutlich. Sie erzählt ganz ruhig und ohne erkennbare Emotion. Es geht nur um Stephan und darum, die verbleibende Zeit so schön wie möglich zu erleben, mit dem, was möglich ist. Dass eigentlich geplant war, nach vielen Jahren Kontaktabbruch den leiblichen Vater noch einmal zu sehen – und zu hören, dass er vier Wochen vorher verstorben ist. Manchmal gibt es keine Worte.
Während wir ein bisschen betreten in unsere Kaffeebecher gucken, besprechen wir die weitere Organisation. Da wir trotz negativem Corona-Test nicht mit dem Wünschewagen auf das Krankenhausgelände fahren dürfen, fährt Wiebke mit ihrem Auto vor. Wir treffen uns auf dem Parkplatz, Stephan, im Rollstuhl, liebevoll warm eingepackt von seiner Frau und spürbar aufgeregt. Wiebke ist ungeschminkt und ein bisschen blass, ihr Alter ist schwer zu schätzen. Wenn sie lächelt und mit Stephan spricht, wirkt sie wie ein junges Mädchen.
Es ist sinnbildlich für diesen Tag, Wiebke ist an seiner Seite, kümmert sich und achtet darauf, dass es Stephan gut geht. Sie kennt sich gut aus mit dem Rollstuhl, den verschiedenen Kissen und Decken und weiß, dass es für ihn schwierig ist, auf die Trage umgesetzt zu werden. Ann-Sophie als Rettungssanitäterin und Vera als Krankenschwester sind geübt in den Handhabungen, gemeinsam heben wir Stephan aus dem Rollstuhl, damit er sich während der Fahrt noch ein bisschen ausruhen kann.
Sie vertraut uns, als wir kurzfristig die Organisation übernehmen, es ist ähnlich wie im Krankenhaus. Als wir im Wünschewagen sitzen, Vera und Ann-Sophie vorne, ich mit Wiebke und Stephan hinten, frage ich, wie sie sich kennengelernt haben. Stephan ist eingekuschelt und ein bisschen erschöpft, während Wiebke erzählt, greift sie oft nach ihm, berührt die Decke oder lächelt ihn an. Durch eine Anzeige haben sie sich kennengelernt, im Wochenblättchen der Stadt, in der sie wohnen. Eigentlich ein Missverständnis, er war auf der Suche nach einer Partnerin, sie nach jemandem für die Freizeitgestaltung. Wie sympathisch sie sich gleich waren, Stephan etwas unsicher, wegen der Beinprothese, die er seit dem Unfall trägt. „Das war nie ein Problem für mich!“ sagt Wiebke – und ich glaube ihr sofort. Dass sie beide schüchtern sind, sich Zeit gelassen haben miteinander und wie schön der Hochzeitsantrag war. So unaufgeregt, wie sie beide. In einem kleinen Restaurant, ohne großes Brimborium aber ganz romantisch, am Valentinstag. Wiebke spricht liebevoll, es ist kein Bedauern zu erkennen, über die schwierige Situation. Häufig sucht sie Stephans Blick oder seine Bestätigung, wenn sie von der gemeinsamen Zeit und den Reisen erzählt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, die beiden haben sich gerade erst kennengelernt und sind auf dem Weg zu einem romantischen Date. Die Offenheit, mit der sie spricht, Stephans leise Bestätigungen und manchmal ein Lachen, macht es mir leicht, in dieser so intimen Situation bei ihnen zu sein.
Sie erzählt von Christian, Stephans Freund, und der besonderen Verbundenheit zwischen den Männern. Sie sind alle im gleichen Alter, Jahrgang 1965, Christian und Stephan kennen sich seit 50 Jahren. Die Sympathie ist spürbar, wenn sie von gemeinsamen Erlebnissen spricht, die sie auch als Paare miteinander verbinden. Dass es schade ist, dass die beiden nun weggezogen sind, ein Treffen nicht mehr so unkompliziert möglich ist – und sie noch nie in dem neuen Zuhause waren, in dem Britta und Christian seit einigen Monaten wohnen. Weil die Diagnose dazwischen kam. Die erste Zeit, in der es noch Hoffnung gab, dass die Gehstörungen vielleicht mit der neuen Prothese zu tun haben, oder einer Krankheit wie Parkinson. Dass es ein inoperabler Hirntumor ist, durch den die halbseitige Lähmung entstand. Und dass er nicht daran, sondern an den Folgen einer Infektion sterben wird. Manchmal gibt es keine Worte.
Ich bin froh, als wir in der kleinen Straße ankommen, in der Britta und Christian wohnen. Sie kommen gleich raus, als sie den Wünschewagen sehen, begrüßen uns freundlich und improvisieren eine Rampe, damit wir das Haus gut erreichen.
Der Rollstuhl ist zusammengeklappt im Wagen verstaut, es dauert, bis Stephan auf der Trage und alles, was wir benötigen, auf der Straße stehen, damit wir ihn für den Besuch umsetzen können. Ich glaube, dass es schwer ist, in solchen Momenten nur zuzusehen, warten zu müssen, dass der Freund und Ehemann endlich ins Haus gebracht werden kann. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, es gibt Käsekuchen und Schokoriegel, es gibt genug Platz, dass wir dabei sind, aber die beiden Paare ungestört sind. Vera, Ann-Sophie und ich sprechen über unsere Eindrücke, und ich merke wieder einmal, dass wir trotz aller Erfahrungen alle weiche Stellen haben, wenn wir mit dem Wünschewagen unterwegs sind. Es ist eine angenehme Atmosphäre, Britta und Stephan freuen sich sichtlich, ihre Freunde im neuen Haus begrüßen zu können. An den Wänden hängen viele Fotos, von Urlauben, Hochzeiten, Ausflügen – Stephan und Wiebke sind auf vielen davon zu sehen. Es ist schwierig, den strahlenden Mann auf den Fotos mit dem Menschen in Einklang zu bringen, den wir in den letzten Stunden kennenlernen durften.
Vermutlich gibt es nie den perfekten Zeitpunkt, so ein (letztes) Treffen zu beenden und ich bin sehr froh, dass Wiebke uns die Entscheidung abnimmt. Stephan ist müde, trotzdem ist die Verabschiedung herzlich. Britta und Christian stehen fest umarmt in der Tür und winken, als wir langsam aus der Straße fahren. Es ist ein wunderschöner Sonnenuntergang, den wir durch die Fenster sehen können, d.h. Wiebke und ich. Stephan ist erschöpft, er spricht sehr leise und schläft zwischendurch immer kurz ein. Ich möchte den beiden Raum und Ruhe für ihr Miteinander geben und versuche, mich unsichtbar zu machen. Gar nicht so einfach, in einem riesigen, weißen Schutzanzug, der bei jeder Bewegung raschelt. Die Beleuchtung ist gedimmt, Wiebke ist kaum zu erkennen mit ihrer dicken Jacke, der Mütze und der Maske, die sie vermutlich gar nicht mehr bemerkt. In den nächsten Tagen holt sie Stephan nach Hause, es ist alles organisiert, der Pflegedienst und alle Hilfsmittel kommen ins Haus. Sie können über alles reden, auch jetzt, in dieser Situation. „Wir sind immer ehrlich miteinander, nicht wahr, mein Schatz?“ – und ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, diese Gespräche mit einem Menschen zu führen, den man liebt.
Wiebke ist bis zum letzten Moment umsichtig und freundlich. In dem Moment, als ich die zweite Fußstütze des Rollstuhls suche - weil ich vergessen habe, dass Stephan nur eine benötigt. Als sie uns für die Begleitung dankt und jeder von uns eine Kleinigkeit überreicht, liebevoll vorbereitet. Und ganz besonders, als sie alleine mit Stephan in der Dunkelheit zurück ins Krankenhaus geht. So, wie sie es wollte.
Manchmal gibt es keine Worte.
Tinka Beller
Autorin und Wunscherfüllerin beim Wünschewagen SH