„Machet jot, Rinn“ („Mach es gut, Rhein!“)

Die Gründe, morgens um drei Uhr wach zu sein, sind im Moment recht übersichtlich. Keine Party, von der man spät zurückkommt, kein Urlaubsflieger, der erreicht werden muss – Menschen, die um diese Zeit wach sind, haben in den meisten Fällen Schlafstörungen, kleine Kinder – oder begleiten eine Wunschfahrt, die schon um 6.30 Uhr in Elmshorn beginnt. Wunscherfüllerin Tinka Beller berichtet.

Schlaftrunkene Routine, Kaffeebecher, Brotdose und mich ins Auto schaffen und zum Treffpunkt fahren. Nach zwei Stunden Fahrt bin ich ziemlich fit und freue mich, Birgit, Koordinatorin und gute Seele des Wünschewagen, zu sehen. Besonders, da sie nicht nur Kaffee gekocht, sondern auch den Süßigkeitenvorrat für die Fahrt ordentlich aufgestockt hat. Das ist sehr gut, da wir, Belinda, Vera und ich. heute sehr lange unterwegs sein werden mit unserem Fahrgast. 

Marlene (die wie die anderen Personen eigentlich anders heißt), möchte noch einmal ihre alte Heimat sehen. Und das ist Düsseldorf. Ziemlich weit weg von Bad Schwartau, wo wir sie abholen.  Die Einrichtung, in der sie lebt, kenne ich von einer Begleitung. Es ist ein schönes Gefühl, in vertraute Gesichter bei den Pflegekräften zu sehen, na ja, das, was davon unter der Maske zu sehen ist. Es ist toll, dass wir fahren können und in diesem Fall eine absolute, logistische Meisterleistung, da es mit dem Übernachten in Hotels gerade nicht so einfach ist. In der Fahrgastmappe befinden sich neben den Informationen über Marlene auch viele Mails mit dem Gesundheitsamt, dem Hotel und anderen Institutionen, die zustimmen mussten, damit wir unsere Reise antreten durften. Wir Begleiterinnen sind aufgrund unserer Berufe geimpft, getestet und tragen Maske – mehr Sicherheit geht kaum. 

Marlene liegt im Bett und verfolgt das Gewusel um sie herum mit wachen Augen und großer Gelassenheit. Sie freut sich auf die Fahrt – so schön es ist, im Norden näher bei ihrer Tochter und dem Enkel zu sein, ist es hier nicht ihr Zuhause. „Das Essen hier ist schrecklich!“, ist eine der ersten Aussagen, die ich von ihr höre. Die Pflegerin lächelt, sie weiß, dass es sich nicht auf die Einrichtung, sondern auf die regionalen Unterschiede bezieht. Die Tasche ist gepackt, die Schuhe stehen bereit, und nur das mobile Sauerstoffgerät und die wirklich gut gefüllte Kiste mit Medikamenten macht klar, dass wir mit jemandem reisen, der sehr schwer erkrankt ist. Ich setze mich an ihr Bett, stelle mich vor und berühre sie sanft an den Armen. Nähe schafft Nähe, wir werden viel Zeit miteinander verbringen und  mehrere Stunden im Wünschewagen miteinander fahren, da ist es gut, wenn es schon ein Gefühl füreinander gibt. Belinda und Vera, die beide aus medizinischen Berufen kommen, sind da pragmatischer und sehr professionell. 

Aufgrund der langen Fahrt transportieren wir Marlene liegend. Belinda und Vera haben sich gerade erst kennengelernt und sitzen vorne, ich bleibe bei Marlene im hinteren Teil des Wagens und spreche mit ihr über ihr Leben und unsere Fahrt. Es sind diese Momente voller Nähe, die jede Wunschfahrt so einzigartig machen. Je näher wir Düsseldorf kommen, um so genauer kommentiert Marlene Orts- und Nummernschilder. Wir sprechen über das Essen im Rheinland, ihre Kindheit im Kloster, weil ihr Vater dort gearbeitet hat, und das Essen dort („Schwester Katrin war eine sehr gute Köchin!“) und ganz besonders über ihre einzige Tochter Simone (die auch phantastisch kocht …).

Sie spricht mit sehr viel Wärme von Simone und Paul, dem einzigen Enkelkind. Wie das war, damals, vor mehr als 50 Jahren, als unverheiratete Frau, schwanger, in dieser katholischen Gegend, in der sie aufgewachsen ist. Wie sie ihrer Mutter jeden Tag die langen Haare gekämmt hat und bei der Gelegenheit nebenbei mitgeteilt hat, dass sie ein Kind bekommt – und nicht vorhat, zu heiraten. „Also, begeistert war sie nicht …“ und ich kann mir vorstellen, dass das eine ziemliche Untertreibung ist. Sie erzählt von ihrem Leben, wie selbstständig sie ihren Job und ihr Kind vereinbart hat. Von ihren Interessen, Musik, Theater, Ballett und jetzt, „in der Fremde“, ohne Freunde und Bekannte, ohne Möglichkeit, „mal eben“ in ein Konzert zu gehen – und mit der Krankheit, die deutliche Spuren hinterlassen hat. Wir sprechen über Männer: „Bei uns im Heim gibt es nur zehn Männer, der Rest sind Frauen!“ und die Lösung: „Wenn wir am Rhein sind, gucken wir mal, was da so rumläuft. Aber mehr so für dich, für mich nicht mehr so.“ So sehr, wie sie dabei lacht, sollten wir eher nach einem Partner für Marlene gucken. Sie lächelt mich an: „Manche Männer taugen einfach nicht so“, sagt sie und ich habe eine Idee davon, was sie meint. 

Ich erzähle von meinem Leben, meinen Kindern, der Arbeit und davon, dass ich ein tolles Ehrenamt habe. Dass nichts fehlt, auch kein Mann. Sie hört genau zu und fragt nach. „Was genau hast du für ein Ehrenamt, das dir so viel Spaß macht?“ – und ich bin etwas verunsichert. Für mich ist eine der Besonderheiten des Wünschewagens genau das, dass wir, als Begleitungen, diese Zeit schenken. Ich weiß nicht, was ihre Vorstellung ist, aus welcher Motivation heraus wir fahren, aber die Antwort scheint sie zu befriedigen. 

Marlene liegt so, dass sie durch die großen Seiten- und Rückfenster des Wagens nach draußen sehen kann, ich sitze neben ihr, mit dem Blick nach vorne. Je näher wir unserem Ziel kommen, um so munterer wird sie. Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie sie es schafft, aber sie erkennt jede Straße und kommentiert die Route. Belinda und Vera fahren die fast 500 Kilometer mit dem auf 100 Kilometer pro Stunde gedrosselten Wünschewagen souverän bis vor unser Hotel. Also das, von dem wir dachten, dass es das richtige ist. War es aber nicht, zwar theoretisch, aber Corona…

Unsere Zimmer sind sehr zentral und direkt am Hauptbahnhof. Bei dem Gewusel an Einbahnstraßen, Taxen und Menschen, die quer über die Straße laufen, bin ich ganz froh, in dem Moment nicht zu fahren. Im Hotel werden wir sehr freundlich und warmherzig begrüßt. Marlenes Zimmer wird vom IBIS Hotel kostenlos zur Verfügung gestellt, neben der Wasserflasche steht eine handgeschriebene Karte, auf der ihr ein schöner Aufenthalt gewünscht wird. Das ist ein zauberhaftes Detail und trägt zur guten Stimmung bei.

Nachdem wir den Kühlschrank im Wünschewagen auf der Fahrt mehr oder weniger total geplündert haben, sind wir alle hungrig. In der Nähe des Bahnhofs gibt es eine große Anzahl an Restaurants, Marlene, als Mittelpunkt unserer kleinen Reisegruppe, darf bestimmen. In der Stadt, in der ich wohne, ist die Auswahl recht übersichtlich und ich freue mich auf ein tolles Essen. Vietnamesisch? Indisch? Italienisch? Marlene ist offen für alles, das habe ich auf der Fahrt herausbekommen. Sie strahlt uns an: „Pommes!“ Äh… Es hilft nix. Sie darf aussuchen, wir gehen mit. Glück im Unglück: Wir können sie überreden, nicht beim Fastfood-Restaurant zu essen, sondern uns „gute“ Pommes zu holen. Das Problem: Das Angebot überfordert nicht nur sie, diverse Sorten Pommes, Saucen und Beilagen. Die große Auswahl und die Vielzahl an Kombinationen ist eine echte Herausforderung. Ein Blick auf die Karte gibt den Rest: „3,60 Euro? Das ist mir zu teuer!“ 

Es gibt Menschen, die Geld spenden und Menschen, die die Fahrten ehrenamtlich begleiten. Beides zusammen ermöglicht, dass den Fahrgästen keine Kosten entstehen. Nicht für Pommes (und die anderen schönen Sachen, die wir dort gefunden haben) und nicht für das Eis, das wir am Rhein gegessen haben. Die Absprache war ganz klar: Marlene ist für das Wetter und die Ampelschaltung zuständig. Sie macht einen guten Job: strahlender Sonnenschein – und sobald wir uns einer Ampel nähern, ein ausgestreckter Arm. Bei der zweiten Ampel erfahre ich, dass sie den rechten Arm nicht so gut heben kann. Neben der aktuellen Diagnose Lungenkrebs, gab es schon mal Brustkrebs, vermutlich eine Spätfolge.

Wir laufen durch die Straßen und erfahren, wo Simone, ihre Tochter, zur Schule gegangen ist. Uns werden viele Türen geöffnet an dem Tag, unter anderem die zu einer katholischen Kirche, wo gerade eine Andacht stattfindet. Wir fallen auf, die dunkelblauen Wünschewagen-Jacken und Marlene, mit ihrer pastellfarbenen Mütze im Rollstuhl. Wir zünden Kerzen an und geben unsere Wünsche an eine höhere Macht. In der Einrichtung, in der sie wohnt, gibt es eine Pflegerin, die sie besonders mag und die manchmal mit ihr betet. Nach vielen Kilometern, Pommes, Eis und Sonne laufen wir zurück zum Hotel. Vera und Belinda helfen liebe- und respektvoll beim Umziehen, ich sitze in Marlenes Rollstuhl und höre den Gesprächen zu. Gemeinsam legen wir sie ins Bett, wie ein Kind liegt sie da, erschöpft, aber glücklich. Wir haben besprochen, gemeinsam zu beten und ich knie mich vor ihr Bett. „Du kannst genauso gut in meinem Rollstuhl sitzen und beten. Dem lieben Gott ist das egal!“ sagt sie. Und als ich zirka 15 Minuten später versuche, mich am Bett hochzuziehen, denke, ich, dass sie recht hatte. Es ist eine außergewöhnliche Situation, wir stehen, sitzen oder liegen um das Bett herum und singen Kirchenlieder. Also mehr oder weniger, aber ich glaube, Marlene lässt den guten Willen gelten. 

Sie schläft wie ein Stein, der Kaffee, den ich zum Frühstück geholt habe, wird kalt, weil wir sie nicht mit Gewalt wecken wollen. Im Hotel gibt es kein Frühstück, wir werden herzlich verabschiedet, holen uns etwas am Bahnhof und setzen uns mit unseren Leckereien in ein Wartehäuschen der Straßenbahn. Das Wetter meint es gut mit uns, klar, und wir laufen zum Rhein-Ufer. „Laufen“ ist ziemlich wörtlich zu nehmen, ich schiebe Marlene in einem Tempo, in dem andere Menschen vermutlich vor einem Säbelzahntiger weglaufen würden. Mein Glück ist, dass ich nicht alleine bin – ohne unseren Fahrgast werden Vera und Belinda nicht aufbrechen. Je länger wir unterwegs sind, um so mehr verfällt Marlene in ihren Dialekt, und auch wenn ich einiges gewohnt bin, muss ich häufig nachfragen. Belinda kann locker einstimmen und ich habe kurzfristig das Gefühl, dass gleich jemand Karnevalslieder spielt. Zu Marlenes großer Freude treffen wir Nina am Rhein, eine Freundin von Simone aus Kindheitstagen. Nina ist extra gekommen, um uns beziehungsweise Marlene zu sehen. Sie ist herzlich und offen, übernimmt Marlene und den Rollstuhl und so, wie beide strahlen, haben sie eine gute Zeit. Gemeinsam, aber mit Abstand zu den beiden, damit sie sich in Ruhe unterhalten können, laufen wir das Rhein-Ufer entlang. Wir machen Fotos, die wir Simone, Marlenes Tochter schicken, Marlene strahlt Nina an – und wir strahlen mit.  

Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns und müssen langsam los. Die Verabschiedung von Nina ist liebevoll und wir freuen uns, dass das Treffen stattgefunden hat. Mit der Aussicht auf ein tolles Mittagessen gehen wir zurück zum Wünschewagen, wir sind mehr als fünf Kilometer gelaufen und meine Füße in den Sicherheitsschuhen beschweren sich langsam, dass sie nicht mehr laufen möchten. Belinda darf heute das Restaurant aussuchen und richtig! – es gibt Pommes! Sie war vor einigen Jahren hier und war begeistert von dem Angebot.

Es ist mittags, wir hatten keinen genauen Plan, wann wir zurückfahren, aber uns allen ist klar, dass noch viele, viele Kilometer vor uns liegen. Da bereits alles, inklusive Taschen und uns im Wagen ist, beschließen wir, uns etwas zu Essen zu holen und im Wagen zu essen. Ich merke, dass Marlene der Abschied schwer fällt. Sie hätte gerne noch ein bisschen mit uns in der Sonne gesessen und auf ihren Rhein geguckt. Marlene liegt auf der Trage, wir stellen die Rückenlehne so hoch, wie es geht und öffnen alle Türen, damit es sich ein bisschen wie Picknick anfühlt. Ich glaube, es ist egal, wie viele Fahrten ich begleiten werde, diesen Moment, in dem wir die Rückfahrt antreten, werde ich immer unendlich schwierig finden. Belinda scherzt, dass wir noch eine Nacht bleiben sollten, und ich habe das Gefühl, dass nicht nur Marlene das gerne annehmen würde. Doof, dass wir am nächsten Tag arbeiten müssen, im Hotel wären wir bestimmt noch eine Nacht willkommen gewesen. 

Ich schreibe diesen Text auf dem Weg zurück. 

Marlene liegt neben mir, ich konnte sehen, wie sehr es sie berührt hat, dass wir noch einmal am Rhein-Ufer entlang gefahren sind. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ihr gehen mag, mit dem Wissen, dass sie nie wieder hierher kommen wird, in das, was so lange ihr Zuhause war. 

Sie guckt so intensiv, dass ich das Gefühl habe, sie möchte den Moment bis zur letzten Sekunde bewahren. Als sie ganz lese: „Machet jot, Rinn“ (Liebe Rheinländer, bitte verzeiht mir, ich bin Hamburgerin und weiß nicht, wie es geschrieben wird…) sagt, bin ich diejenige, die mit den Tränen kämpfen muss. Sie ist müde und kann nicht schlafen. Ab und zu macht sie die Augen zu, guckt aber immer wieder, ob ich noch neben ihr bin. Sie ist kurz weggedämmert und ich bin aus ihrem Blickfeld verschwunden, weil ich mich nach vorne gebeugt hatte. „Wo warst du denn?“ – ich muss lachen: „Marlene, wir sind in einem fahrenden Auto, ich komme hier nicht weit …!“ 

Ihre Hände sind kalt und ab und zu berühre ich sie, um zu gucken, ob sie etwas wärmer geworden sind. Manchmal hält sie meine Hand für einen Augenblick fest, vermutlich ist es für uns beide unbequem, mein Arm ist abgewinkelt und liegt auf ihrem Oberkörper, aber es ist ein Moment von großer Intimität und Nähe, der mich sehr berührt. Ich spüre ihren rasselnden Atem, die Mühe, die sie beim Husten hat. Die Krankheit ist weit fortgeschritten und es ist gut, dass wir die Fahrt jetzt machen konnten. Vermutlich wird sie nicht mehr sehr lange in der Lage sein, diese Anstrengungen zu meistern. 

Vor uns liegen noch viele Kilometer bis nach Bad Schwartau. Dort werden wir Marlene in gute und liebevolle Hände geben und uns verabschieden. Vera, Belinda und ich werden von dort aus nach Elmshorn fahren und den Wünschewagen abstellen. Wir werden uns über Marlene und die Fahrt unterhalten, über Momente, die uns besonders nahegegangen sind. Zum Abschied werden wir uns fest umarmen, in unsere eigenen Autos steigen und nach Hause fahren. Ich werde gegen 23.30 Uhr Zuhause sein, vermutlich total müde, aber mit dem wunderschönen Gefühl, zusammen mit wundervollen Menschen etwas sehr Sinnvolles getan zu haben. Machet jot, Marlene, danke, dass wir bei dir sein durften!